Vom Sehen und Gesehenwerden

von Mirjam Mehnert

Auf einer Scala von 1-10: Wie sehr mögen Sie Bettler auf der Straße? 

Blöde Frage, finden Sie? 

In diesem Jahr verbrachte ich vergleichsweise viel Zeit in den Straßen von Berlin. Überall sieht man sie unter den Brücken und in den Bahnhöfen. Sie fahren nachts und am Morgen mit ihrer gesamten Ha­be quer durch die Stadt von Endhaltestelle zu Endhaltestelle, um einen warmen Platz zum Schlafen zu haben. Sie betteln um Geld, Essen und Zigaretten, sie verkaufen Zeitschriften und singen. 

Ich will gar keine Diskussion darüber lostreten, welche Gründe Menschen dazu bewegen und ob das al­les echt ist. Vielmehr möchte ich eine Geschichte erzählen. Die Geschichte eines blinden Bettlers. Er lebt nicht in Berlin, sondern in Jericho. Vor 2000 Jahren… 

Der Bettler heißt Bartimäus, er ist bekannt, hält die Leute am Stadttor auf. Kaum jemand nimmt Notiz von ihm, niemand mag ihn. Anschluss hat er nur unter seinesgleichen. Er bettelt, weil er blind ist. Er besitzt nichts als das, was er auf dem Leib trägt, er weiß nichts von Sonnenschein oder Farben. Da ist ein ganzer Mensch in seinem Sein verkümmert. Er hat keine Perspektive und kein Ziel. Nur eine Sehnsucht: sehen können.

Die Menschen gehen vorbei, der eine oder andere steckt ihm aus Mitleid etwas zu. In den Gesprächen schnappt er einen Namen auf: Jesus. Und hört nebenbei, dass er Kranke heilt und Tote auferweckt. Weit eilt der Ruf dem Meister voraus. Bartimäus‘ Sehnsucht bekommt einen Namen: Jesus.

Eines Tages dann das Wunder: Jesus kommt vorbei. Bartimäus hört es am Tumult, in dem der Name klingt, spürt es an der Aufregung um sich herum. Er fragt und wird bestätigt. Jesus ist da. Es ist seine einzige Chance. Wenn es überhaupt eine ist. Er schreit einfach los. Er kann nur hoffen, dass Jesus ausgerechnet sein Geschrei aus dem Stimmengewirr heraushört, er muss lauter sein als die anderen. Er schreit die Sehnsucht heraus, die einen Namen und ein Ziel hat: „Jesus!“ Ich will sehen können, mach mich gesund, schwingt da heimlich mit. 

Die Leute verbieten ihm den Mund: Sei still! Was störst du unsere Kreise? Du bist nicht dran! Wer bist du schon, dass Jesus ausgerechnet dich…

Bartimäus lässt sich nicht beirren. Er schreit weiter. Hinrennen zu Jesus kann er ja nicht, er weiß nicht mal, wie der Weg aussieht, an dem er steht. Dann passiert das Unglaubliche: Jesus hört ihn schreien und bleibt stehen. Jemand sagt Bartimäus, dass er aufhören kann mit dem Geschrei, dass er Gehör gefunden hat, ja, dass er Zugang erhält. „Komm, er ruft dich.“ 

Bartimäus zittert vor Aufregung. 

„Was soll ich tun für dich?“, fragt Jesus. 

Bartimäus setzt alles auf eine Karte. Er spricht die Sehnsucht aus: „Ich will sehen.“

„Dein Glaube hat dir geholfen“, sagt Jesus, und da sieht Bartimäus sein Gesicht. Er sieht! Mit den sehenden Augen öffnen sich auch die Perspektiven. Ein neues Leben, ein neuer Mensch, für einen Augenblick muss es ihm vorkommen, als läge ihm die Welt zu Füßen. Er geht mit Jesus. Den lässt er nicht wieder los. Mit ihm eröffnet sich ihm eine andere Welt.

Warum erzähle ich dir das kurz vor Weihnachten? Es ist doch gar keine Weihnachtsgeschichte. Oder doch?

Die Geschichte von Bartimäus ist eine Geschichte von der Sehnsucht und vom Mangel. Und von Erfüllung. Und sind zu Weihnachten nicht unsere Wünsche und Sehnsüchte besonders präsent? Spüren wir nicht da auch den einen oder anderen Mangel? Da ist die Sehnsucht nach zwischenmenschlicher Wärme, nach Frieden, nach Harmonie und Verbundenheit, nach Sicherheit und Ruhe. Vielleicht mangelt es an einem liebevollen Gegenüber, schmerzen innere Leere, alte Verletzungen, chronische Krankheiten, fehlt die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens, die Bedeutsamkeit des eigenen Tuns. Selbst, wenn augenscheinlich alles Lebensnotwendige vorhanden ist, holen uns diese Bedürfnisse ein. Ereignisreichtum oder Verdrängung reichen nicht aus, um diese Sehnsucht zu stillen. Es sind Sehnsüchte, die Namen tragen: Schmerzfrei sein. Ein sinnvolles Leben führen. Wertgeschätzt werden. Mehrwert für andere haben. Verbunden sein mit anderen. In klaren Verhältnissen leben. Abgesichert sein. Vergeben. Neu anfangen. 

Jesus wird geboren in die Sehnsucht hinein. Hinein in die Heimatlosigkeit, in die Armut, in die Bedürftigkeit. Er kennt den Mangel: das eigene Bett ist eine geborgte Futterkrippe, das Vaterhaus ein Stall, die Heimat ein Asyl in Ägypten. 

Die Geschichte von Bartimäus ist ein schönes Gleichnis für Erfüllung, wenn der Adressat stimmt, an den wir die Sehnsucht richten. Manchmal sind wir wie mit Blindheit geschlagen – ohne Perspektive, ohne Ziel, ohne Hoffnung, ohne Lösungsidee. Vielleicht bliebt Ihre Suche bisher erfolglos, möglicherweise kennen Sie Jesus nur vom Hörensagen. Gesehen haben Sie ihn noch nicht, nie erlebt.

Egal, ob Sie laut oder in Ihrem Herzen ganz ungehört von anderen Menschen schreien: Jesus hat das leise oder laute Klagen gehört. Er ruft uns zu sich. Er will uns sehen. Seine Frage gilt auch Ihnen: „Was soll ich tun für dich?“

Die ausgesprochene Sehnsucht bleibt nicht unbeantwortet. Vielleicht heilt Jesus nicht auf den Punkt wie bei Bartimäus. Aber er öffnet eine Perspektive, eine neue Sicht, er schenkt Lösungen und neue Ideen, Hoffnung, Mut und Zuversicht. Er hört zu und bleibt, solange wir wollen.

 Weihnachten ist die Zeit der Wünsche und Sehnsüchte. Jesus kam, um die Sehnsucht zu stillen – die Sehnsucht nach einem versöhnten, erfüllten, sinnvollem Leben. Deshalb gilt auch Ihnen gerade jetzt in der Adventszeit (und darüber hinaus) die Einladung: „Komm, er ruft dich!“