…wie auch euer Vater barmherzig ist!

von Mirjam Mehnert

Jahreslosung 2021

Wenn ich als Kind etwas angestellt hatte und mein Vater mich ausschimpfen wollte, sagte ich stets: „Papa, lache mal.“ Ich kann mich an keinen Fall erinnern, wo mein Vater danach noch geschimpft hätte – er brachte es einfach nicht fertig.

Wenn mein Sohn etwas ausgefressen hat, kommt er sehr häufig zu mir, umarmt mich etwas fester und freiwilliger als sonst und seufzt: „Mama, ich habe dich ganz doll lieb.“ Das rührt an mein Mutterherz, egal, wie sauer ich gerade noch war.

Sucht man in der Bibel das Wort „barmherzig“, so findet man es fast ausnahmslos im Zusammenhang mit den Worten gnädig, geduldig und gütig.

Barmherzig sein, das hat etwas mit Nachsicht zu tun, mit Vergebungsbereitschaft, mit Aushalten. Erbarmen braucht Herzenswärme. Da geschieht etwas, das von einer Person auf die andere überströmt. So stelle ich mir das Erbarmen Gottes vor.

Die Bibel sagt, Gott tröstet uns, wie eine Mutter ihre Kinder tröstet. Jesus erklärt seinen Jüngern, dass wir zu Gott „Papa“ sagen dürfen. Gott ist Vater und Mutter in einem.

Wenn wir etwas ausgefressen haben, müssen wir noch nicht einmal unter Tränen um Verzeihung bitten und reumütige Büßertaten vollbringen. Es rührt an Gottes Herz, wenn es uns leidtut, egal, wie gut oder schlecht wir das ausdrücken können. Wenn uns der Schuh drückt, bemerkt er das. Natürlich tut er das – er hat uns geschaffen, er kennt den Bauplan, er weiß, was er in uns hineingelegt hat. Und er kennt auch unsere „Baustellen“, unsere Nöte und Ängste, unser verheimlichtes Versagen, unser Leugnen, damit wir uns schmerzhaften Konflikten nicht stellen müssen, er weiß um die fehlgeleitete Sehnsucht, Leere und vielleicht auch bislang erfolglose Suche, die uns dazu treibt, manche Dummheit zu begehen.

Aber Gottes Augen blicken barmherzig auf seine Schöpfung. Er erbarmt sich wie ein Vater über Kinder, die es einfach nicht besser wissen und (noch) nicht kapieren. Sogar dann, wenn wir es beim hundertsten Mal immer noch falsch machen, wenn uns unsere Schwächen immer wieder verfolgen, wir manches ungute Verhalten einfach nicht abstellen können, wir immer wieder zu spät daran denken, dass wir uns doch in diesem oder jenem Punkt ändern wollten, oder wenn wir einfach nicht hinschauen wollen oder können, wo es dunkle Flecken oder Veränderungsbedarf in unserem Leben gibt. Gott bleibt bei uns, auch wenn wir stillstehen oder nur sehr langsam gehen können.

Er bleibt bei dem kleinen Kind, das gerade neugierig die Welt entdeckt und dabei überhört, dass die Mutter es ermahnt, nicht auf den Hocker zu klettern.

Er bleibt bei dem Mann, der zur Arbeit fährt und im Auto über den vor ihm Fahrenden eskaliert.

Er geht mit der überforderten Frau, die Arbeit und Haushalt und Mutterpflichten unter einen Hut zu bekommen versucht und der dabei der Geduldsfaden reißt.

Er geht mit dem alten Menschen, der vereinsamt und hilflos in einem Heim im Bett liegt und auf Gedeih und Verderb anderen Menschen ausgeliefert ist.

Gottes Barmherzigkeit ist kein kurzer Gefühlsüberschwang, der ihm im nächsten Augenblick schon wieder leidtut. Sie ist ein Versprechen über Generationen hinweg. Er lässt sich daran erinnern und darauf festnageln, weil es sein Wesen ist.

Wir dürfen uns bei ihm verkriechen, uns schützen lassen, uns ausweinen, einfach nur rumsitzen und da sein, mit all unseren Verletzungen, mit Schuld und Scham, mit Reue und all den Versäumnissen, die uns im Nachhinein leidtun. Er deckt alles mit seinem Erbarmen zu und erlaubt uns, in seiner Nähe zu verweilen und auszuruhen, er verlangt nicht, dass wir uns zusammenreißen und weiter funktionieren und den Mund halten und weitermachen.

Er wünscht sich, dass wir sein Erbarmen, seine Barmherzigkeit in Anspruch nehmen und dadurch entdecken, wie wohltuend seine Nähe ist, wie sehr er sich eine Beziehung mit uns wünscht, fernab alles menschlichen Gerechtigkeitsempfindens, aller Unversöhnlichkeit und aller Selbstzweifel. Er öffnet sein Herz jedem. Sein Erbarmen fließt von ihm auf uns über. Ausnahmslos und ohne Unterschied. Damit wir mit vielen anderen am eigenen Leib erfahren und vielleicht begreifen können:

„Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.“ (Psalm 103, 8)